Comic

Obwohl der Comic als Graphic Novel den Kanonisierungsprozess der Künste weitestgehend durchlaufen hat, fehlt es an einer Bündelung verschiedener semiotischer Untersuchungsansätze. Den Eigenarten des Comics werden weder klassische literaturwissenschaftliche noch rein bildwissenschaftliche Analysen gerecht, da diese dazu neigen die Besonderheiten des Zusammenspiels der Zeichensysteme zu vernachlässigen. Dabei charakterisiert das Spiel mit den Zeichen den Comic auf verschiedenen Ebenen.

Visuelle Zeichen, formale Konventionen: Unmittelbar assoziiert wird vor allem mit den klassischen Comics franko-belgischer oder US-amerikanischer Schule ein kanonisiertes Repertoire von Symbolen, Piktogrammen, Ikonen und Lautmalereien, sowie ein festes Panelraster, das die Erzählbausteine rahmt – und die Zeit räumlich visualisiert. Die Sillleben-artigen Ausschnitte, die gezeigt werden, verweisen indexikalisch auf den größeren Gesamtzusammenhang. Das normierte grafische und formelle Vokabular wird in experimentelleren Comics bewusst dekonstruiert.

Stil als Zeichen für Glaubwürdigkeit/Identifikationshilfe: Die Bilder im Comic sind natürlich immer nur als Annäherungen zu verstehen. Das realistische(re) Abbild des Referenten ist nicht gleich ein Garant höherer Authentizität. Scott McCloud hat Vorschläge gemacht, inwiefern seines Erachtens verschiedene Abstraktionsgrade der Comic-Zeichnungen unterschiedlich rezipiert werden: Die stark abstrahierte Stichmännchen-Zeichnung trage dazu bei, dass sich der Lesende mehr mit der Figur identifizieren könne. Andere Theoretiker_innen wie beispielsweise Elisabeth El Refaie haben gezeigt, dass eine naiver, an Kinderbilder erinnernder Stil in autobiografischen Comics als Zeichen von Glaubwürdigkeit gelesen wird, da die plakative wahrzunehmende Körperlichkeit und (vermeintliche Ungelenkigkeit) Echtheit suggeriert.

Dynamik der Zeichensysteme: Der Comic ist allerdings nicht nur Bild und auch mehr als die Summe aus Text und Bild. Mit seinen zwei Zeichensystemen erweist sich aber als besonders dynamisches Experimentierfeld für innovative narrative Praktiken. Comics spielen mit verschiedenen Zeit- und Erzählebenen und multiplizieren Perspektiven. Durch die räumliche Anordnung der Panels ist der Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichzeitig gerichtet. Die Simultaneität von Bild- und Textnarration kann genutzt werden, um verschiedene Perspektiven oder gar konkurrierende Versionen einer Erzählung zu präsentieren. Die Bilder werden nicht unbedingt durch Blocktexte didaktisiert – ob das, was wir sehen der diegetischen Realität entsprechen soll oder eine Metapher für das Innenleben des Erzählers darstellt, erschließt sich nicht immer auf den ersten Blick. Da der Textanteil im Regelfall geringer ist als in einem Prosatext, bleibt wenig Raum für die konventionalisierte Erzählung aus der Retrospektive und in der ersten Person.

Zeichen der Gesellschaft: In Legitimationsdebatten immer wieder gerne aufgerufen werden Umberto Ecos anhaltende Untersuchungen mit dem Comic. Ecos Analysen belegen nicht nur, dass Comics Gegenstand literarisch bereichernder Lektüren sein können, sondern sie als Zeichen für gesellschaftliche Zu- und Missstände gelesen werden können. So zeigt Eco beispielsweise in seiner semiotischen Peanuts-Lektüre, dass die so harmlos anmutenden Zeitungsstrips von Psychoanalyse, Massenkultur, und zeitgenössischer Vereinsamung erzählen – und so eine (mit Hilfe der Kindercharaktere liebevoll verfremdete) Enzyklopädie der Neurosen der postindustriellen Gesellschaft zeichnen. Auch Roland Barthes hat nicht nur selbst mit Text-Bild-Konstellationen gearbeitet (siehe etwa Roland Barthes par Roland Barthes), sondern die Fruchtbarkeit der Liaison von Bild und Text auch reflektiert, in aller Dichte in dem (typisch fragmentarischen) bon mot: „bande dessinée ou dessin qui bande“.

Entkontextualisierte Comic-Zeichen: Dass die Comic-Ästhetik mit der Pop-Art à la Lichtenstein Zugang in die Galerien gefunden hat, ist allseits bekannt. Auch prestige-trächtige Museen werben heutzutage mit Sprechblasen, und zwar auch wenn es in den Veranstaltungen gar nicht um Comics geht. Die Figur des Superhelden oder Antihelden ist aus der Werbung nicht mehr wegzudenken. Es ist zu fragen, zu welchem Zweck die entkontextualisierte Comic-Haftigkeit (oder, in Anlehnung an Barthes, Comicalität) speziell in der vermeintlichen Hochkultur Verwendung findet.

Der Comic als hybrides Medium, das mit Text- und Bildebene zwei Zeichensysteme vereint und das Potential hat, Stereotypen durch ihre Sichtbarmachung zu dekonstruieren, ist ein prädestiniertes Untersuchungsobjekt semiotisch orientierter Fragestellungen. Die Sektion Comic hat zum Ziel, die hier skizzierten und weitere semiotische Ansätze zur Betrachtung von Comics und verwandten Bild-Text-Narrativen zu bündeln und sichtbar zu machen.

 

Zur Einführung

Abel, Julia und Christian Klein (Hgg.): Comics und Graphic Novels. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2015.

Aldama, Frederick Luis (Hg.): The Oxford Handbook of Comic Book Studies. New York: Oxford Univ. Press 2020.

Bramlett, Frank, Roy T. Cook und Aaron Meskin (Hgg.): The Routledge Companion to Comics. London, New York: Routledge 2016.

Domsch, Sebastian, Dan A. Hassler-Forest und Dirk Vanderbeke (Hgg.): Handbook of Comics and Graphic Narratives. Berlin u. Boston: de Gruyter 2021.

Eder, Barbara, Elisabeth Klar und Ramón Reichert (Hgg.): Theorien des Comics. Ein Reader. Bielefeld: Transcript 2011.

McCloud, Scott: Understanding Comics. The Invisible Art. New York: Harper 1994.

Packard, Stephan et al.: Comicanalyse. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2019.

 

Ihre Ansprechpartnerin für die Sektion

Marie Schröer (Profil | E-Mail)

 

Auswahl thematisch relevanter Publikationen von Marie Schröer

Terrain de Je: Zum Wechselspiel zwischen Comic, Autobiografie und Bildungsroman. Berlin: Bachmann Verlag [erscheint im Herbst 2021].

„Autobiografie im Comic. Geschichte/n, Varianten, Potentiale“. In: Geschichte des Comic. Studien zu Epochen, Ländern und Einzelwerken. Hrsg. von Bernd Dolle-Weinkauf und Dietrich Grünewald. Berlin: Bachmann [erscheint 2021].

„Resignation und Ressentiment. Zu den Grenzfällen politischer Korrektheit bei Michel Houellebecq und Virginie Despentes (mit einem Seitenblick auf Charlie Hebdo)“ (mit Gregor Schuhen). In: Political Correctness. Kultur- und sozialgeschichtliche Perspektiven. Hrsg. von Georg Albert, Lothar Blum und Markus Schiefer Ferrari. Baden-Bade: Tectum Verlag 2020, S. 237-266.

„Arty/fiziell authentisch?! Autobiografische Performance im Comic“. In: Autobiografie intermedial. Fallstudien zur Literatur und zum Comic. Hrsg. von Kalina Kupczynska und Jadwiga Kita-Huber. Bielefeld: Aisthesis 2019, S. 423-439.

“Too Graphic a Novel?! Charlie Hebdo, Culture Connotations, and Change of Register in the German Translation of Luz’ Catharsis”. In: Speaking like a Spanish Cow. Cultural Errors in Translation. Hrsg. von Clíona Ní Riordain und Stephanie Schwerter. Stuttgart: ibidem 2019, S. 135-162.

„Laboratoire sur le ›Moi‹”. Zur naturwissenschaftlichen Metaphorik im Journal von Fabrice Neaud. In: Comics und Naturwissenschaften. Hrsg. von Clemens Heydenreich. Berlin: Bachmann 2019, S. 199-222.

Comics an der Grenze. Sub/Versionen von Form und Inhalt. Hrsg. mit Matthias Harbeck und Linda Heyden. Berlin: Bachmann 2017.

„Personnalités multiples. L'autoportrait en bande dessinée “. In: Trajectoires, Hors série n°1 (2016). trajectoires.revues.org/1938 (12.08.2020).

„Graphic Memoirs“. In: Comics und Graphic Novels – eine Einführung. Hrsg. Von Julia Abel und Christian Klein. Stuttgart: Metzler 2015, S.  263-275.

 

Weiterführende Links

AG Comicforschung der Gesellschaft für Medienwissenschaft: https://agcomic.net/

Deutsche Gesellschaft für Comicforschung: https://www.comicgesellschaft.de/

Bonner Online-Bibliografie der Comicforschung: https://www.bobc.uni-bonn.de/

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