Tanz, Theater und Zirkus

Bei den Standardwerken, die seit den 1970er Jahren auch in Deutschland zu einer zunehmenden Etablierung der Forschungsfelder Tanz-, Theater- und Zirkuswissenschaft geführt haben, handelt es sich überwiegend um semiotische Arbeiten. Besonders hervorzuheben sind diesbezüglich in der Theaterwissenschaft die semiotisch ausgerichteten Analysen Erika Fischer-Lichtes[1], in der Tanzwissenschaft die Werke von Susan Leigh Foster[2] und Gabriele Brandstetter[3] und in der Zirkuswissenschaft die Schriften von Paul Bouissac[4]. Im Rückgriff auf den tschechischen Strukturalismus definieren diese Ansätze die „Aufführung als einen ‚Text‘, der in der ‚Sprache‘ des Theaters [des Tanzes/des Zirkus] abgefasst“[5] ist, durch eine spezifische Form der Textanalyse untersucht werden kann und lesbar ist.

Im Zuge der performativen Wende des theaterwissenschaftlichen Diskurses, der zu einem Perspektivenwechsel auf die Analyseobjekte führte (von der Aufführung als Text zum theatralen Prozess) wurde die textorientierte Methode stark kritisiert, ja sogar „totgesagt“[6]: Der semiotische Ansatz wird als „eindimensionales, informationstheoretisches Verfahren karikiert […], das Theater als lineare Bedeutungsvermittlungsmaschinerie zwischen einem zeichenproduzierenden und – autorisierenden Absender (der Bühne, dem Regisseur oder Choreografen) und einem diese Zeichen konsumierenden Empfänger (dem Publikum im Saale) auffasst[…].“[7] Die Medialität und Materialität von Aufführungen würden, so die Kritiker, kaum Beachtung finden, sie würden „als bloße Realisierung einer als vorgänglich angenommenen, abstrakten Sprache vernachlässigt“.[8] Auch das aktuelle Interesse der Tanz-, Theater- und Zirkuswissenschaft an Artistic Reseach, an Modellen wie Thinking through Performance[9] und Konzepten wie dem Neuen Materialismus[10] und die damit verbundene Infragestellung des Subjekts, verstehen sich als Gegenpositionen zu der auf Sprache ausgerichteten Semiotik.

An dieser Stelle setzt die Sektion Tanz, Theater und Zirkus an und fragt nach der chiastischen Verschränkung von Semiotizität und Performativität. Trotz Konzentration auf Verfahren der Sinnstiftung, so ist einzuwenden, sind Semiotizität und Performativität interdependente Phänomene, „das Performative und das Semiotische [sind immer] gleichzeitig am Werk.“[11] Letzteres ist dabei nicht nur als „die wesentliche Bedingung der Möglichkeit für Bedeutungserzeugung“[12] oder nur als „ein[…] Faktor im Prozess der Bedeutungsgenerierung“[13] zu verstehen. Vielmehr gilt, dass man „sich das Performative nicht als das schlechthin Bedeutungslose, als das Unbedeutende, als insignifikant denken“[14] darf.

 

Ziel der Sektion ist es, vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen in der Tanz-, Theater- und Zirkuswissenschaft nach der Relevanz semiotischer Theorien und Modelle für die Analyse von performativen Künsten zu fragen:

  1. Wie kann die Semiotik als „Rahmentheorie“ der Heterogenität der Aufführungsformen und Formate und ihrer Analyse gerecht werden? Wie verhalten sich beispielsweise Semiotik und Performanz, Semiotik und New Materialism(s), Semiotik und Erfahrung zueinander (theoretische Dimension)?
  2. Inwiefern können mithilfe semiotischer Analysen Entwicklungen im Tanz, Theater und Zirkus in ihrem historisch-kulturellen Kontext dezidiert dokumentiert werden (historische Dimension)?
  3. Inwiefern lassen sich semiotische Konzepte bereits im Produktionsprozess von Performances nutzen (praktische Dimension)?

 

[1] Fischer-Lichte, Erika: Das System der theatralischen Zeichen. 5. Auflage. Tübingen: Narr 2007.

[2] Foster, Susan Leigh: Reading dancing. Bodies and subjects in contemporary American dance. Berkeley: University of California Press 2008.

[3] Brandstetter, Gabriele: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt am Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1995.

[4] Bouissac, Paul: Circus and culture. A semiotic approach. Bloomington: Indiana University Press 1976.

[5] Paule, Gabriela: Kultur des Zuschauens. Theaterdidaktik zwischen Textlektüre und Aufführungsrezeption. München: kopaed 2009. S. 183.

[6] Siefkes, Martin: Sturm auf die Zeichen. Was die Semiotik von ihren Kritikern lernen kann. In: Martin Nies (Hrsg.): Schriften zur Kultur- und Mediensemiotik online. Nr.1. 2015.

[7] Boenisch, Peter M.: Tanz als Körper-Zeichen: Zur Methodik der Theater-Tanz-Semiotik. In: Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein (Hrsg.):Methoden der Tanzwissenschaft. Modellanaalysen zu Pina Bauschs ‚Le Sacre du Printemps/ Das Frühlingsopfer‘. S.36.

[8] Kolesch, Doris: Textualität. In: Metzler Lexikon Theatertheorie. Hrsg. von Fischer-Lichte, Erika; Kolesch, Doris; Warstat, Matthias. 2. Auflage. Stuttgart: J. B. Metzler 2014. S. 357–359. S.358.

[9] Bleeker, Maaike, Aadrian Kear, Joe Kelleher, Heike Roms (Hrsg): Thinking Through Theatre and Performance. Bloomsbury 2019. und Lievens, Bauke, Sebastian Kann, Quintijn Ketels, Vincent Focquet (Hrsg.): Thinking through Circus. APE 2019.

[10] Schneider, Rebecca: New Materialisms and Performance Studies. In: TDR: The Drama Review 59 (2015) H. 4. S. 7–17.

[11] Fischer-Lichte, Erika: Performativität/performativ. In: Metzler Lexikon Literatur. Hrsg. von Burdorf, Dieter. Stuttgart: J.B. Metzler 2007. S. 251–258. S.256.

[12] ebd.

[13] ebd.

[14] ebd.

 

Ihre Ansprechperson für die Sektion:

Franziska Trapp (Profil | E-Mail)

www.zirkuswissenschaft.de

 

Ausgewählte Publikationen

Lektüren des Zeitgenössischen Zirkus. Ein Modell zur text-kontext-orientierten Aufführungsanalyse. Berlin: De Gruyter 2020.

Reading Circus. Dramaturgy on the Border between Art and Academia. In: Małgorzata Sugiera, Karel Vanhaesebrouck, and Timmy De Laet (Hrgs.): Language and Performance: Moving across Discourses and Practices in a Globalised World. European Journal of Theatre and Performance. H.1. 2021. (im Druck)

From Anthropocentrism towards New Materialism. Prolegomena to an Object-Focused-Approach to Circus Performances. In: Cyril Thomas, Diane Moquet, Esther Friess (Hrgs.): Agrès, scénographie, éco-conception. CNAC, Chalons-en-Champagne 2021. (zur Veröffentlichung angenommen)

From the Swiss Alps to the Volcanic Beaches of the Canary Island – Agencies in Site-specific Contemporary Circus Performances. In: Marine Cordier, Emilie Salamero et al (Hrsg.): Carnet de Hypotheses CCCirque. Paris 2021. (im Druck)

« Le cirque contemporain ou ce qu’il en reste » : Une lecture du spectacle Les Princesses du Cheptel Aleïkoum. In : Diane Moquet, Karine Saroh, Cyril Thomas (Hrsg.): Contours et détours des dramaturgies circassiennes. Brüssel, Paris : CNAC et ESAC 2020. S. 182-197.

Literary Circus: Towards the adaption of novels in the work of ‚Les Colporteurs’. In: Margarete Fuchs, Anna-Sophie Jürgens und Jörg Schuster (Hrsg.): Manegenkünste. Zirkus als ästhetisches Modell. Bielefeld: Transkript Verlag 2020. S.  7-14.

Zirkus und Raum: Eine Semiotik der Performanz. In: Martin Nies (Hrsg.): Raumsemiotik. Räume. Grenzen. Identitäten. Schriften zur Kultur- und Mediensemiotik Online. Flensburg 2019. S. 223-240. (In Zusammenarbeit mit Maren Conrad).

L’importance du contexte pour la lecture des spectacles de cirque. Le cas de Jimmy Gonzalez, D’Argile In: Magalie Sizorn, Agathe Dumont (Hrsg.): Professionalisation dans les arts du cirque. Reims: EPURE (Presses Universitaires de Reims) 2019. S. 153-166.

UpSideDown – Circus and Space. Traveling Exhibition. Ausstellung in Zusammenarbeit mit der Zentralen Kustodie und dem Kulturbüro der WWU. Münster 2018.

UpSideDown – Circus and Space. An Academic Graphic Novel. Münster 2018. ISBN: 978-3-946191-04-9 (In Zusammenarbeit mit Eckhardt Kluth).

Narrating the Other: L’autre by Claudio Stellato. In: Karen Fricker (Hrsg.): Circus and its Others. Performancematters: Montréal 2018. http://performancematters-thejournal.com/index.php/pm/article/view/142/208.

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